Er ist Sachse, sie Oberpfälzerin. Das Regensburger Paar Steffen und Margit Berger radelt 30 Jahre nach dem Mauerfall auf den Spuren der eigenen Geschichte.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Ab diesem Tag war in Deutschland nichts mehr, wie es einmal war. Euphorie und ein nie dagewesenes Gefühl der Einheit erfüllte viele Menschen in der ersten Zeit nach der Wende. Doch die Geschichte der deutschen Einheit kennt auch Kehrseiten, die bis heute offen zu Tage treten.
Steffen und Margit Berger nennen sich selbst ein Ost-West-Paar. Er wurde in Leipzig geboren und war 17 Jahre alt, als die Grenze geöffnet wurde. Sie wuchs in Amberg auf und ist der Oberpfalz immer treu geblieben. 30 Jahre nach dem Mauerfall fährt das Paar aus Regensburg mit dem Rad entlang des ehemaligen Grenzstreifens. Die Bergers haben ihre Tour für die Mittelbayerische in einem Tagebuch festgehalten. Ihre Erlebnisse von der Reise und Erfahrungen von früher wechseln sich ab mit Passagen von MZ-Redakteurin Jana Wolf (kursiv), die das Paar porträtiert.
Steffen Berger: Es ist der 10. August, morgens 6 Uhr, als wir bei Regen in Regensburg samt Fahrrädern in den Zug steigen. Wir wollen im Trockenen nach Hof kommen, dort beginnt unsere Radtour entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Schon auf der Zugfahrt gehen mir Erinnerungen an die DDR-Zeit durch den Kopf. Damals, mit 16 Jahren, war ich mit meinen Eltern in Bulgarien im Urlaub. Wir lernten eine Familie aus England kennen. In einer englischen Zeitung fanden sie Tipps zur Republikflucht, die sie uns nach dem Urlaub nach Leipzig schickten. Hätte irgendjemand diesen Brief abgefangen, es hätte für mich und meine Familie wohl schwere Konsequenzen gehabt. Meine Frau Margit holt mich aus den Gedanken zurück in den Zugsessel: „In dieses Grenzgebiet, wer wollte denn da früher schon hin?“ Die Landschaft des vereinten Deutschlands zieht vor dem Fenster vorbei. Ich habe keine Antwort.
Steffen und Margit Berger haben die Grenze zwischen Ost und West überwunden, lange bevor sie sie in diesem Spätsommer mit dem Rad überquerten. Der Sachse und die Oberpfälzerin sind seit 16 Jahren verheiratet. Sie haben in Regensburg eine Familie gegründet, ihre beiden Söhne sind 12 und 15 Jahre alt. „Zwei wunderbare gesamtdeutsche Burschen“, sagt der Papa stolz.
Steffen Berger: Die Tour beginnt auf einem langen Plattenweg entlang des Grenzstreifens. Über solche Platten bin ich schon als Kind gelaufen. Mir fällt auf, wie dicht der Wald ist. Nicht ohne Grund heißt ein Teil dieser Tour „das grüne Band“. Nachdem der Bereich fast 40 Jahre lang nicht betreten werden konnte, hat sich die Natur frei entfaltet.
Margit Berger: Das Gelände ist so unwegsam, dass wir oft schieben müssen. Wir durchkreuzen Wildschweingehege und überqueren samt Rädern umgefallene Bäume. Auf dem alten Navi, das wir dabei haben, ist nur ein Strich und ein Dreieck zu sehen. Wir sind das Dreieck. Solange das Dreieck auf dem Strich ist, sind wir auf der richtigen Route. Aber dort, wo der Strich ist, gibt es oft gar keinen Weg.
Über rund 1400 Kilometer erstreckte sich die innerdeutsche Grenze, die DDR-Bürger daran hindern sollte, in den Westen zu gelangen. Sie begann im Süden östlich von Hof und endete in der Lübecker Bucht an der Ostsee. Dazu kamen die Absperrungen um West-Berlin, die rund 160 Kilometer umfassten. Die Grenze war hermetisch abgeriegelt, Minenfelder und Selbstschussanlagen machten das Überqueren zur tödlichen Gefahr. Bis 1989 sollen 169 Menschen dabei ums Leben gekommen sein.
Steffen Berger: Auf unserer ersten Etappe von Hof bis Eisfeld im Süden Thüringens passieren wir alte Grenztürme, -zäune und Gedenkstätten. Diese Orte lösen in mir noch immer ein beklemmendes Gefühl aus. Auf die Reise habe ich meinen alten DDR-Pass mitgenommen, in dem noch das Visum zur Ausreise am 10. November 1989 zu sehen ist. Im Gespräch mit Margit wird mir deutlich: Sie konnte sich früher nicht vorstellen, dass die DDR für sie einmal eine Bedeutung bekommen wird.
Margit Berger: In meiner Jugend habe ich von der DDR fast nichts mitbekommen. Wir hatten keine Verwandten oder Bekannten dort, es gab keine Berührungspunkte. Als Wessi ist man nicht einfach in den Osten gefahren. Woran ich mich aber gut erinnere, ist das erste Silvester nach der Grenzöffnung. Ich war 22 Jahre alt. Mit meiner Clique, sieben oder acht Leute, habe ich mich am 30. Dezember 1989 ins Auto gesetzt und bin nach Berlin gefahren. Das war ein Wahnsinns-Silvester.
Am Abend des 9. November 1989 las Günter Schabowski, Sekretär für Informationswesen der DDR, bei einer Pressekonferenz die neue Regelung für Reisen in den Westen vor. Auf die Reporterfrage, ab wann die Ausreiseregelung gelte, sagte Schabowski: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ Dieser fast beiläufige Satz wurde über Rundfunk verbreitet und löste noch in der selben Nacht einen Massenansturm von DDR-Bürgern in Richtung Westen aus. Nach wenigen Stunden kam es zur historischen Öffnung der Mauer.
Steffen Berger: Es war ein Donnerstagabend und ich habe die Nachrichten gesehen. Ich war 17 und habe sofort die Tragweite dieser Botschaft verstanden. Meine Eltern haben meinen jüngeren Bruder und mich sofort geschnappt und gesagt: „Wir müssen euch das unbedingt zeigen. Wir fahren jetzt los!“ Es waren undurchsichtige Zeiten, man wusste ja nicht, ob die Grenze in zwei Wochen wieder dicht ist. Wir haben alles West-Geld zusammengekratzt, um im Westen tanken zu können. Dann sind wir nach Bremen gefahren, dort konnten wir bei Freunden Unterschlupf finden. Es war genau, wie meine Eltern erzählt hatten: Das Gras war grüner, die Häuser weißer und die Tankstellen bunter als im Osten. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Foto: Steffen Berger