Wir debattieren über politisch korrektes Sprechen und vernachlässigen dabei das Zuhören. Dabei ist ein offenes Ohr notwendig, damit Gespräche gelingen. Kommunikation ist eben keine Einbahnstraße.
Wir haben einander lange nicht mehr zugehört. Wir sind zu sehr mit anderem beschäftigt: Wir sprechen und urteilen, wir twittern und posten, wir kritisieren und loben, wir posaunen unsere Meinung in die Welt hinaus. Wir haben so sehr damit zu tun, anderen unsere Sicht der Dinge mitzuteilen, dass wir Gefahr laufen, unser Gegenüber zu übergehen.
Unsere Kommunikation stand selten so sehr unter Beobachtung wie heute. Die Debatte über Political Correctness zeigt, wie emotional und oft auch dogmatisch darüber verhandelt wird, mit welcher Wortwahl wir uns austauschen. Es geht immer um das Sprechen, nie um das Zuhören: Die Frage nach politischer Korrektheit geht vom Sender einer Botschaft aus, nicht vom Empfänger. Wir fragen danach, wie wir sprechen sollen und dürfen, wie viel Direktheit und Härte unsere Sprache verträgt. Politische Korrektheit soll moralische Richtlinien für dieses Sprechen festlegen. Sie ist ein Maßstab für den Sprecher – nicht für den Adressaten.
Auf das Sprechen fixiert
Wenn hier von „Wir“ die Rede ist, dann sind Journalistinnen und politisch Denkende gemeint, Politiker und Schreiberinnen, Leser und an Debatten Beteiligte, Twitterer, Facebooker und Kommentatorinnen, Frauen und Männer, Junge und Alte. Wir, die wir die Moral auf unserer Seite wähnen. Dieser Text will nicht pauschal für alle sprechen, sondern eine subjektive Beobachtung beschreiben. Damit meine ich mich selbst, ebenso wie alle, die sich angesprochen fühlen. Meine Beobachtung: In unserer Fixierung auf das Sprechen urteilen wir vorschnell über andere. Wir tun so, als wüssten wir genau, was die anderen, Fremden, neu Ankommenden verdient haben und was nicht, wie man mit ihnen und über sie sprechen darf, was sie verletzt, kränkt und wodurch ihre Autonomie, sich als eigenständige Individuen in der Gesellschaft zu behaupten, beschnitten wird. Aber: Wir haben ihnen selten zugehört.
Kommunikation ist keine Einbahnstraße
Unsere Gesellschaft stellt die Sprechenden ins Zentrum. Demjenigen, der am lautesten ist, wird wertvolle Aufmerksamkeit geschenkt. In den Feeds der sozialen Netzwerke sind die Meinungsstarken die Platzhirsche – egal, welche Meinung sie vertreten. In der Arbeitswelt dominieren jene, die pointiert argumentieren, schlagfertig kontern, gekonnt zuspitzen, charmant einnehmen. Auch im Privaten haben oft die Lauten das letzte Wort. Was dabei aus dem Blick gerät: Jeder Sender braucht einen Empfänger. Das Sprechen lohnt sich nur, wenn es auf offene Ohren trifft. Kommunikation ist eben keine Einbahnstraße.
Das Sprechen lohnt sich nur, wenn es auf offene Ohren trifft.
Insofern ist selbst der wortgewandteste Sprecher auf sein Gegenüber angewiesen. Jeder Sprechakt birgt die Abhängigkeit von einem Gegenüber in sich, das zum Zuhören gewillt ist. So gesehen ist Zuhören nichts Passives. Mit dem Zuhören geht auch nicht automatisch eine Zustimmung zum Gesagten einher. Nur weil ich zuhöre, gebe ich dem anderen nicht recht. Allerdings ist ein offenes Ohr die Voraussetzung dafür, dass ein Austausch gelingen kann. Der Zuhörende hat das verstanden.
Dieses Plädoyer für das Zuhören bedeutet aber nicht, die eigene Meinung nicht mehr äußern zu dürfen. Hier sollen keine neuen Verbote aufgestellt werden. Im Gegenteil ist es in unserer aufgeheizten und -gehetzten Öffentlichkeit wichtig, klar Position zu beziehen und Haltung zu zeigen. Vielmehr soll hier das Zuhören als aktive Handlung stark gemacht werden. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich seinem Gegenüber anzunehmen. Mehr Zuhören stünde unseren öffentlichen Debatten derzeit gut zu Gesicht.
Goldene Sprachregeln
Wie sehr unsere Öffentlichkeit auf das Sprechen fixiert ist, zeigt eine ganze Reihe an Neuerscheinungen zum Thema. Anatol Stefanowitsch, Sprachwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, stellt in seiner Streitschrift „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ (2018) goldene Sprachregeln auf. Sie sollen dazu anleiten, wie respektvolles Sprechen geht, und beginnen mit einem Imperativ. Da heißt es zum Beispiel: „Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle.“
Das Autoren-Trio Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn formuliert in seinem Buch „Mit Rechten reden“ (2017) stolze 25 Regeln, die sich durch das Reden mit Rechten für das Leben gewinnen ließen. Die Punkte kommen zwar mit ironischem Unterton daher. Dennoch ist die Botschaft dieses Buches, das die Autoren einen „Leitfaden“ nennen, eine normative. Es wird festgelegt, was unbedingt zu beachten und was tunlichst zu unterlassen sei. Nur: Vom Zuhören ist kaum die Rede.
„Nicht jede Kommunikation ist Demokratie, aber Demokratie ohne Kommunikation geht nicht.“ Frank Richter, Theologe und früherer DDR-Bürgerrechtler
Die politische Streitschrift „Hört endlich zu!“ (2018) von Frank Richter, Theologe und früherer DDR-Bürgerrechtler, ist da eine willkommene Ausnahme – auch wenn sie ebenfalls mit Imperativen arbeitet. Einer von Richters Pointen: „Nicht jede Kommunikation ist Demokratie, aber Demokratie ohne Kommunikation geht nicht.“
Kommunikation stärkt die Identität
Bei Fragen unserer sozialen Kommunikation geht es heiß her. Schließlich gehört sie zu unseren elementaren Bedürfnissen. Erst durch den Austausch mit anderen bilden wir uns eine Meinung, formen wir unsere Persönlichkeit, und: stärken wir unsere Identität. Lutz Wingert, Professor für Praktische Philosophie an der ETH Zürich, beschreibt in seiner Schrift „Gemeinsinn und Moral“, wie der Einzelne in der „kommunikativen Lebensform“ involviert ist und, dass er „auf das responsive Verhalten anderer“ angewiesen ist. Wir können nicht ohne Rückmeldung von außen. Erst durch Kommunikation werden wir zu dem, was wir sind.
Diese Angewiesenheit auf das Gegenüber bedeutet zugleich, dass wir bedürftig und verletzlich sind. Wir brauchen die Resonanz. Wir sind abhängig davon, dass sich unser Gesprächspartner unserer annimmt. Das gilt nicht nur für diejenigen, deren Stimme in der Öffentlichkeit nicht gehört wird, für die Schwachen und Unterrepräsentierten. Es gilt ebenso für die Meinungsführer, die Stimmgewaltigen und diejenigen, die die Mehrheiten auf ihrer Seite haben. Gehört werden will jeder.
Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke entwirft in ihrer Promotionsschrift „Kollektive Identitäten“ zwei Szenarien für die Interaktion mit anderen: Im erfolgreichen Fall reagiert das Gegenüber mit Respekt – dann kann laut Emcke von Anerkennung die Rede sein. Im missglückten Fall reagieren die anderen mit Missachtung oder verweigern den Respekt – dann spricht Emcke von moralischer Verletzung oder Demütigung. Diese zwei Optionen zeigen, wie viel Wucht die zwischenmenschliche Kommunikation hat. Sie kann darüber entscheiden, ob man sich im sozialen Gefüge akzeptiert oder ausgegrenzt fühlt, ob man sich als autonomes Wesen wahrgenommen sieht.
„Durch das Anerkennen wird etwas erst zu dem, als das es anerkannt wird.“ Lutz Wingert, Professor für Praktische Philosophie an der ETH Zürich
Emcke denkt die beiden Begriffe Identität und Anerkennung direkt zusammen: Identität kann sich erst herausbilden und festigen, indem sie soziale Anerkennung erfährt. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für soziale Gruppen. Lutz Wingert schreibt dazu: „Durch das Anerkennen wird etwas erst zu dem, als das es anerkannt wird.“ Hier sollte es besser heißen: Durch das Anerkennen wird jemand erst zu dem, als der er anerkannt wird.
Momo ist eine Meisterin des Zuhörens
Es muss nicht Praktische Philosophie sein, um zu zeigen, welche Bedeutung dem Zuhören im sozialen Miteinander zukommt. Auch die kleine Momo aus Michael Endes gleichnamigem Roman hat es vorgemacht. Denn was Momo konnte, wie kein anderer, war das Zuhören. „Sie konnte so zuhören, dass ratlose, unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten“, heißt es bei Michael Ende. „Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.“ Das Beste aber: Wenn jemand meinte, „sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos“ und er selbst ersetzbar „wie ein kaputter Topf“, dann konnte Momo ihm durch ihr Zuhören ein Gefühl der Anerkennung vermitteln: „dann wurde ihm (…) auf geheimnisvolle Weise klar, (…) dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war“.
Ohne Zuhören ist Kommunikation nichts
Momo ist eine Meisterin darin. Und trotzdem: Zuhören ist nichts Kindliches. Es ist kein Zeichen von Schwäche oder Unterlegenheit gegenüber einem starken Redner. Keine passive Reaktion auf einen aktiv Sprechenden. Es stellt auch nicht das Prinzip weiblicher Zurückhaltung gegenüber männlicher Dominanz dar. Ohne Zuhören ist Kommunikation nichts. Auf dem Weg zu einem respektvollen Miteinander ist Zuhören ein unverzichtbarer Beitrag.
Vielleicht ist das Zuhören auch eine probate Antwort auf die Frage, wie viel politische Korrektheit wir brauchen. Denn was unser Gegenüber kränkt und verletzt, wie viel Un-Korrektheit er oder sie ertragen kann, hängt vom einzelnen Individuum ab. Zerfällt die Frage nach dem richtigen Maß an politscher Korrektheit nicht in dem Moment, indem wir zuhören? Stellen wir dann nicht automatisch fest, was dem Gegenüber zumutbar ist? Und schließlich: Ist unser gesellschaftliches Zusammenleben nicht gerechter, harmonischer, respektvoller, wenn wir einfach mal zuhören? Einen Versuch ist es wert.