In der Bronx von Regensburg

Die Humboldtstraße gilt als sozialer Brennpunkt. „Assiviertel“, sagen böse Zungen. Obwohl sich die Gegend zum Guten verändert hat, bleibt das Vorurteil haften. Das wissen diejenigen, die dort wohnen, am allerbesten.

Arlinda Dugolli hat sich nicht getraut, Fragen zu stellen. Wer zu viel fragt, kommt wie ein Dummerchen rüber, dachte sie früher. Arlinda saß also im Mathe-Unterricht an der FOS, nur 350 Meter Luftlinie von ihrem Zuhause in der Humboldtstraße entfernt und trotzdem eine fremde Welt, und sollte mit der Mitternachtsformel eine quadratische Gleichung auflösen. Aber sie kannte die Formel nicht. So etwas Kinderleichtes wie die Mitternachtsformel – heute kann sie nur darüber lachen.

Aber woher hätte sie es damals, als sie frisch an die FOS kam, wissen sollen? Von der Hauptschule sicher nicht, dort wurde sie zu wenig gefördert, sagt Arlinda. Vom M-Zug auch nicht, über den sie die Mittlere Reife nachholte. Arlindas Eltern kommen aus dem Kosovo, die Mama ist Hausfrau, der Papa arbeitet auf dem Bau. Die konnten ihr mit Mathe-Aufgaben doch auch nicht weiterhelfen.

Ganz alleine durchgekämpft

Arlinda hat den Mathe-Lehrer trotzdem nicht nach der Mitternachtsformel gefragt, weil sie wusste, dass an der FOS ein rauer Wind weht. Die sind richtig hart drauf, sagt die 20-Jährige. Wenn du etwas nicht kannst, zeigen sie dir die Tür und du kannst gehen. „Ich wollte nicht blöd rüberkommen.“ Rücksicht gab es nicht. Mitleid wollte sie nicht. Also hat sie sich allein durchgekämpft. Von der Haupt- über die Fachober- bis zur Fachhochschule. Hoch eben.

„Das klingt jetzt vielleicht doof, aber ich bin schon stolz auf mich, dass ich’s geschafft habe.“
Arlinda Dugolli, studiert Medizinische Informatik an der OTH Regensburg

Heute studiert Arlinda Medizinische Informatik an der OTH Regensburg. 1,2 Kilometer Luftlinie von ihrem Zuhause entfernt hat sie sich in einer neuen Welt behauptet. „Ich wusste immer: Ich werd mal studieren.“ Sie denkt kurz nach, ihr Blick wird ernst, dann korrigiert sie: „Ich wusste: Ich muss es schaffen, zu studieren.“ Sie hat’s geschafft. Aus eigener Kraft. „Das klingt jetzt vielleicht doof, aber ich bin schon stolz auf mich, dass ich’s geschafft habe.“

Arlinda spaziert durch die Häuserblocks in der Humboldtstraße. Auf den schmalen Grünstreifen zwischen den Sozialbauten sprießen Gänseblümchen, Vögel zwitschern, die Maisonne knallt. Der Straßenzug hat in Regensburg den Ruf als sozialer Brennpunkt. Schlägereien, Drogen, häufige Polizeieinsätze haben die Gegend in Verruf gebracht, die für Arlinda Heimat ist. Seit 20 Jahren lebt sie hier, ihr ganzes Leben lang.

Mit ihren Eltern und vier Geschwistern wohnt sie in einer Mietwohnung, sieben Personen auf 95 Quadratmetern. Früher, als sie klein waren, mussten die Kinder beim Spielen in Sichtweite zum Haus bleiben. Die Mutter machte sich Sorgen, dass etwas passiert. Auf den Abenteuerspielplatz hinter den Häuserblocks durften die Kinder nur in Begleitung der Eltern. Dort lagen schon mal Spritzen von Junkies herum, erzählt Arlinda. Aber das war früher. Heute kann sich die Straße sehen lassen, findet sie.

Das Brennpunkt-Image haftet bis heute

In den vergangenen Jahren hat sich die Humboldtstraße tatsächlich gemausert. Gebäude wurden saniert, Spielplätze neu gestaltet, das ganze Areal modernisiert. Im Bürgerhaus gibt es einen Kinderhort, eine Mutter-Kind-Gruppe und Kaffeekränzchen für Senioren. Seit 1999 hat die Stadt Regensburg in einem Förderungsprogramm mit dem hoffnungsfrohen Namen „Soziale Stadt“ richtig Geld in das Wohngebiet gesteckt. Auch Mittel des Bundes und des Freistaates sind geflossen. Nur das Brennpunkt-Image konnte das ganze Geld nicht davonspülen. Es haftet bis heute.

Nur 600 Meter Luftlinie von Arlindas Wohnhaus entfernt liegt das Jugendzentrum Arena – schon wieder eine andere Welt. Auf der Skateranlage kurvt ein dreijähriger Junge mit dem Fahrrad über Asphalthügel und Mini-Halfpipes. Seine fünfjährige Schwester hat ihr Fahrrad abgestellt und sucht nach Ameisen. Mama Anke Daus beobachtet das selbstvergessene Treiben. Vor sieben Jahren ist sie aus Berlin nach Regensburg gezogen, weil sie in der Umgebung eine Stelle als Biotechnologin fand. Anke Daus wohnt mit ihrem Mann und den Kindern im angrenzenden Kasernenviertel. Vier Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Nicht mächtig, aber passabel.

„Der Ruf von diesem Stadtteil ist schon eher schlecht. Aber ich verstehe das gar nicht. Ich fühle mich sehr wohl hier.“
Anke Daus, wohnt mit ihrer Familie im angrenzenden Kasernenviertel

Anke Daus schätzt die Wohnqualität in Regensburg, die fahrradfreundlichen Distanzen, die Einkaufsmöglichkeiten. Berlin reizt sie heute gar nicht mehr, sagt sie. Und trotzdem: „Der Ruf von diesem Stadtteil ist schon eher schlecht“, sagt sie. „Aber ich verstehe das gar nicht. Ich fühle mich sehr wohl hier.“

Während die Kinder frei herumtollen, Sichtweite zur Mutter hin oder her, spricht Anke Daus von den „Humboldtstraßen-Kindern“. Ja, Vorurteile gäbe es da schon. Der Straßenzug werde oft mit sozialen Problemen in Verbindung gebracht. Sie selbst geht mit ihren Kindern öfter zum Abenteuerspielplatz an der Humboldtstraße. Probleme? „Ich persönlich habe nie schlechte Erfahrungen gemacht. Die Leute dort sind immer nett und aufgeschlossen.“

Auf dieser Karte sehen Sie, wo genau die Humboldtstraße liegt. Wenn Sie herauszoomen und den Kartenausschnitt vergrößern, sehen Sie alle Orte der Serie. Zu jedem Einzelnen gibt es eine Angeklopft-Geschichte, die Sie ganz am Ende des Textes unter „Alle Serienteile“ finden.

Lästige Reaktionen in der Schule

Arlinda Dugolli ist ein „Humboldtstraßen-Kind“. Früher, zu Schulzeiten, hat sie deswegen von Mitschülern unangenehme Reaktionen zu spüren bekommen. „Die haben so getan, als wären wir voll aggressiv“, sagt Arlinda und legt ihrer kleinen Schwester, die gerade mit einem Roller um die Ecke gekurvt kommt, den Arm um die Schulter. „Aber ich bin eigentlich eine ganz Ruhige.“ Nur das Vorurteil wird man so schnell nicht mehr los. Einmal Humboldtstraße, immer Humboldtstraße.

250 Meter Luftlinie entfernt wartet Nuriye Mader an der Bushaltestelle auf die Linie 3 Richtung Innenstadt. Mit ihrem bunt-geblümten Latzkleid, dem pinken Halstuch und der Ballonmütze gibt sie ein fröhliches Bild ab. Aber das sind nur Äußerlichkeiten. Denn in ihr brodelt es gewaltig. Der Nahverkehr ist der Grund für den Ärger. Vor einigen Wochen hat sich die 68-jährige Türkin ein neues Busticket gekauft, 370 Euro für ein Jahr. Weil sie nicht wollte, dass sie auf ihrem Mini-Rentenkonto ins Minus kommt, hat sie das Geld angespart und in bar zum Kundenzentrum gebracht. Die Quittung für die Einzahlung hat sie weggeworfen. Die Sache war ja erledigt, dachte sie.

Bis die 370 Euro noch einmal von ihrem Konto abgebucht wurden. Im Kundenzentrum glaubte man ihr nicht, dass die Rechnung schon beglichen war, und ohne Quittung konnte sie es nicht beweisen. Jetzt ist Nuriye Mader mit ihrem blauen Trolli mit dicken weißen Punkten unterwegs und sammelt Pfandflaschen. „Meinen Goldwagen“ nennt die Türkin ihren rollbaren Flaschen-Transporter und lacht herzlich. Den Humor lässt sie sich bestimmt nicht nehmen.

Die Mitternachtsformel konnte sie nicht bremsen

Arlinda Dugolli kennt viele solcher Geschichten aus dem Wohnviertel. Sie erzählt auch von ihrem Vater. Im Kosovo hat er Tiermedizin studiert, in Deutschland arbeitet er auf dem Bau und ernährt damit die siebenköpfige Familie. Arlinda haben solche Geschichten angespornt. Sie meint: „Wenn man in Deutschland etwas erreichen will, dann kann man es auch schaffen.“ Die FOS hat sie mit einem Notendurchschnitt von 1,4 abgeschlossen – selbst die Mitternachtsformel konnte sie nicht bremsen. Und wenn sie später einmal als Medizininformatikerin arbeiten und selbst Geld verdienen wird, will sie sich eine eigene Wohnung nehmen – in der Humboldtstraße. Schließlich ist sie hier zuhause.

Hier ist die Geschichte auf der multimedialen Plattform MZ-Stories nachzulesen – mit Videos, 360-Grad-Bild und Bildergalerien!

Die komplette Serie „Angeklopft. Besuche in Ostbayern“ ist hier zu finden.