Auf den ersten Blick ist Waltraud Zollner aus Sattelpeilnstein traditionelle Hausfrau. Auf den zweiten ist sie sehr viel mehr: Auswandererin und Heimkehrerin – und beharrliche Fürsprecherin der Frauen.
Erst muss Waltraud Zollner die Vögel füttern, bevor sie über ihr Leben spricht, über die Pflichten als Haus- und Ehefrau im Bayerwald, über das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Erst die Vögel füttern, dann diskutieren.
Es ist wie ein Ritual. Waltraud Zollner hat die Meisenknödel in ihrer Küche selbst zubereitet, aus Brot, Butter und Haferflocken satte Bälle geformt, sie in der Mikrowelle sogar noch aufgewärmt und sie dann behutsam in den Futtervorrichtungen vor dem Haus angerichtet. Meise, Amsel und Specht sollen satt werden, wenn sie die 73-Jährige in ihrem Garten in Sattelpeilnstein mitten im Bayerwald besuchen. Waltraud Zollner sorgt sich um Haus und Garten. Alles braucht seine Ordnung. Die Rentnerin mit dem aufmerksamen, skeptischen Blick kann aber auch ganz anders.
Kaum ist das Ritual erledigt, legt Waltraud Zollner alles Mütterliche und Fürsorgliche ab und sagt solche Sätze: „Die Frauen in unserer Gegend haben die Zeche gezahlt, in jeder Hinsicht.“ Sie spricht vom Beruf und der Kindererziehung und der Pflege der Alten und dem finanziellen Auskommen und dem eigenen Ansehen in der Gesellschaft. Allerhand. Sie sieht eine ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern in den Möglichkeiten, die einem im Leben offenstehen. Bis heute. Spricht sie über diesen Missstand, dann bricht sich bei der traditionellen Hausfrau ein widerspenstiger Geist Bahn. Aus der Mutter spricht dann die beharrliche Fürsprecherin der Frauen. Aus der Witwe die unermüdliche Arbeiterin.
Sie konnte sich durchsetzen
Schon mit 15 Jahren hat Waltraud Zollner ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau im Lebensmittelladen der Tanten angefangen. Die zwei Damen hatten keine eigenen Kinder, waren nicht verheiratet, mussten sich nie unterordnen. „Die waren es gewöhnt, immer anzuschaffen“, sagt Waltraud Zollner. Da brauchte es jemanden, der sich durchsetzen kann. Außerdem wollten sich die Tanten mit der Nichte die eigene Altersvorsorge sichern. Sie vererbten ihr ein Haus, dafür musste sie später deren Pflege übernehmen.
Kochen, Backen, Einwecken, Schlachten, Wurstherstellung – all das lernte Waltraud Zollner in ihrer Jugend. Man weiß nie, in welche Notlagen man im Leben gerät, man muss für alles gerüstet sein, sagt sie. Aus der 1945 Geborenen spricht noch der Geist der Nachkriegszeit. Die Ausbildung führte sie schließlich nach München. Sie arbeitete in einem Feinkostladen südlich der bayerischen Hauptstadt und lernte, sich im fremden Umfeld zurechtzufinden. Und dann kam die Liebe und zog sie zurück ins Heimatdorf.
Waltraud Zollner holt ein Fotoalbum aus dem Wohnzimmerschrank und fängt an zu blättern. Sie ist mit ihrem Mann und der kleinen Tochter am nordafrikanischen Strand zu sehen. Auf einem Bild reitet die Tochter auf einem Esel. Auf dem nächsten fährt die Familie mit Chamer Kennzeichen durch die Wüste. Waltraud Zollners Mann arbeitete als Textiltechniker beim Textilhersteller Lübke. Die Firma verlagerte die Produktion in den 1970er Jahren nach Nabeul, eine Küstenstadt im Norden Tunesiens. Dort war die Arbeit billig und die Produktionskosten niedrig. Doch am wirtschaftlichen Profit hingen Familienschicksale. Der Mann musste fort. Die Frau folgte mit dem kleinen Kind.
Sie zweifelt nicht, sie schimpft
Ihr eigenes Berufsleben ließ Waltraud Zollner hinter sich. „Das hat mir schon gefehlt“, sagt sie. „Aber was soll‘s? Das war damals so.“ Die 73-Jährige hadert und zweifelt nicht. Wenn, dann schimpft sie.
Zum Beispiel über die Kinderbetreuung. Aus ihrer Sicht werden Frauen im Berufsleben heute noch immer Steine in den Weg gelegt, weil das Betreuungsangebot nicht ausreicht. „Da sind wir so weit hinten dran, dass es nicht mehr schön ist“, sagt sie. Ginge es nach Waltraud Zollner, gäbe es eine verpflichtende, ganztägige Betreuung für alle Kinder ab einem Jahr – für Einheimische wie für Zuwanderer. Ausgebildete Pädagogen sollten alle Kinder gleichermaßen fördern, damit früh sprachliche Grundlagen gelegt und Chancen eröffnet werden. Mütter und Väter könnten dann gleichberechtigt arbeiten, meint Waltraud Zollner. „Jeder soll für sein eigenes Auskommen in die Arbeit gehen. So würden wir auch den Sozialstaat entlasten.“
Manchmal rau und widerborstig
Fünf Jahre lebte Waltraud Zollner in Tunesien. Das praktische Wissen, das sie sich zu Hause angeeignet hatte, konnte sie im Ausland anwenden. Tunesische Frauen kamen zu ihr, wenn sie Rat beim Kochen, im Haushalt oder in der Kindererziehung brauchten, erzählt sie. „Ich habe dort mehr oder weniger Entwicklungshilfe geleistet.“ Sie erlebte aber auch, dass in anderen Ländern andere Sitten gelten. Ungeschminkt durfte eine Frau das Haus nicht verlassen. „Um den Mann zu ehren, musste man geschminkt sein.“ Ihre Stimme klingt in diesem Moment rau und widerborstig.
IWaltraud Zollner kurvt mit ihrem Wagen durch das hügelige Sattelpeilnstein. Bei Anstiegen gibt sie Gas, die Kurven nimmt sie eng. Sie kennt jeden Winkel des Bergdorfs im vorderen Bayerischen Wald. Die schönen Seiten des Ortes zeigt Waltraud Zollner gerne her. Ein uraltes, gut erhaltenes Bauerhaus auf der Wiese am Bodenbach zum Beispiel, mit roten Geranien und einem Holzofen davor. Wo findet man heute noch so ein Idyll? Das prächtige Schloss am höchsten Punkt des Dorfes, 1891 errichtet, mit der alten Schlossbrauerei, deren Ursprung bis 1348 zurückreicht. Dass Sattelpeilnstein heute gut dasteht, hängt an den Menschen, sagt Waltraud Zollner. An ihrem Fleiß und jahrelanger Arbeit.
Im Geldbeutel zahlen sich die Mühen nicht aus
Heute lebt Waltraud Zollern allein. Ihr Mann ist vor sieben Jahren gestorben, die Tochter hat mit dem Schwiegersohn im niederbayerischen Straßkirchen ein eigenes Haus gebaut. Von den insgesamt 15 Jahren Erwerbstätigkeit bleibt nicht viel Rente. Leben lässt sich davon längst nicht. Die Mühen als Hausfrau und Mutter zahlen sich am Ende im Geldbeutel nicht aus. Zu ihrem Glück hat Waltraud Zollner Witwenrente und Mieteinnahmen aus der Wohnung im Erdgeschoss ihres Hauses, die sie an ein junges Paar vermietet. Und ihre Sparsamkeit. Sie hat ihr Leben lang zurückgelegt, Kleidung selbst genäht, Böden und Tapeten im Haus mit den eigenen Händen verlegt. Selbst Möbel hat sie selbst renoviert, erzählt sie. Die 73-Jährige kann zupacken.
Dann muss Waltraud Zollner zurück in den Garten, es gibt viel zu tun. Genug diskutiert. Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von selbst.