Der Protest wirkte vom Bauzaun bis in die Stube

Der WAA-Widerstand schlug sich mit Wucht im Privaten nieder: Beziehungen gerieten ins Wanken, Eltern und Kinder in Streit. Wie konnte es so weit kommen?

Es hat Wucht, wenn Renate Kersting ihre Meinung sagt. „So viel Dummheit habe ich damals von Politikern gehört.“ Die 69-Jährige redet sich heute noch in Rage, wenn es um den Widerstand gegen die Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in Wackersdorf vor 30 Jahren geht. „Ich habe mir in meinem ganzen konservativen, schwarzen Leben, das ich bis dahin geführt habe, nicht vorstellen können, dass Politiker so viel Blödsinn reden können.“ Das sitzt.

Renate Kersting teilt ihr Leben im Rückblick in zwei Kapitel: vor dem WAA-Protest und danach. Vorher war sie angepasst und CSU-nah, danach sagt sie öffentlich solche Sätze. Die Politiker, von denen sie spricht, gehörten der Bayerischen Staatsregierung unter Ministerpräsident Franz Josef Strauß an. Die temperamentvolle Schwandorferin wollte es nicht akzeptieren, dass sie den Bau der Atomanlage über die Köpfe der Oberpfälzer hinweg durchdrücken. So kam sie zum Widerstand, so begann das Umdenken.

Die andere Seite des Widerstands

Kersting gehört zu den WAA-Gegnern der ersten Stunde. Wie ihr früherer Ehemann Dieter Kersting ist sie Gründungsmitglied der Bürgerinitiative Schwandorf. Gemeinsam organisierten sie im Januar 1982 die erste Demonstration. Sechs Jahre und viele erbitterte Kämpfe später trug der Protest Früchte: Im Januar 1988 erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) den WAA-Bebauungsplan für nichtig, im April 1989 zog der Energieproduzent Veba das Vorhaben zurück. Ein enormer Erfolg für die Widerständler. Es gibt aber auch eine andere Seite: Rund neun Jahre nach der ersten Demo ließen sich Renate und Dieter Kersting scheiden. Auch private Schicksale wie dieses sind Teil der WAA-Geschichte.

Erschüttert in der ganzen Lebensweise

Renate Kersting stammt aus einer streng konservativen Familie. „Man muss anständig sein und darf nicht auffallen – so bin ich aufgewachsen.“ Ihre Eltern führten einen Feinkostladen und waren in Schwandorf gut bekannt. Die Tochter wurde dazu erzogen, nicht anzuecken und vor Kunden freundlich zu lächeln. Dann kam der Widerstand – Renate Kersting war damals Mitte 30 – und mit ihm warf sie die alten, tief verankerten Verhaltensmuster über den Haufen. „Diese Erfahrung hat mich in meiner ganzen Lebensweise erschüttert.“ Sie begann, Autoritäten zu hinterfragen, bildete sich ihre eigene politische Meinung, suchte Mitstreiter im Kampf gegen die Atomanlage. Der Widerstand, sagt Renate Kersting heute, war nicht der Grund für ihre Scheidung; schließlich waren sie und ihr Ex-Mann sich in der Ablehnung der WAA einig. Trotzdem schlug sich die Erfahrung, die eigene Meinung selbstbewusst zu vertreten, im Privaten nieder.

Für Dieter Kersting ist es heute selbstverständlich, dass der politische Widerstand private Folgen hat. „Das war ein wesentliches Thema, man hat sich intensiv damit auseinandergesetzt“, sagt der 75-Jährige. Auch er betont, dass die Trennung nicht mit Meinungsverschiedenheiten zur WAA zu tun hatte. Trotzdem: „Möglicherweise wurden die privaten Folgen durch das Engagement bei der WAA verstärkt.“

Das komplette Feature zu den privaten Folgen des Widerstands in Wackersdorf mit Videos und Bildergalerien der WAA-Zeit einem 360-Grad-Bild gibt es hier.

Der Text ist Teil eines großen Themenprojekts zur WAA und politischem Widerstand heute. Alle Texte des Projekts sind hier gebündelt.

Begleitend zum Themenprojekt findet eine Podiumsdiskussion mit Peter Gauweiler, Altlandrat Schuierer und MZ-Redakteur Heinz Klein am 1. Feburar 2018 statt. Ich werde den Abend in Regensburg moderieren. Weitere Infos dazu gibt es hier.